„Und wo setzen Sie Grenzen?“ – Vom Umgang mit Freiheiten und Grenzen

Kindgerechte Bildung braucht Freiheit. Nur wenn ein Kind die entsprechenden Freiheiten hat, kann es selbst ausprobieren. Und Sie wissen: Wenn ein Kind selbst ausprobiert, lernt es dabei auch etwas. Diese selbstbestimmten Lernprozesse sind die wichtigsten und wertvollsten Erfahrungen mit den größten „Erfolgen“. Doch was ist, wenn ein Kind beim selbsttätigen Lernen an eine Grenze stößt? Wenn plötzlich eine allgemeingültige Gruppenregel überschritten wird? Dann sind Sie gefragt: Wie viel Freiheit ist nötig – wo müssen Sie klare Grenzen ziehen? Keine einfache Frage. Die folgenden Schritte, die anhand eines Beispiels aus der Praxis aufgezeigt werden, möchten dazu einladen, sich den Kindern und ihren Forderungen zu stellen.

 

1. Schritt: Abwarten

Die Erzieherin Carola beobachtet, wie Emily und Tobias während des Frühstücks damit beginnen, ihr Essen zu zerdrücken. Ihr 1. Impuls lautet eigentlich „Stopp – mit Essen spielt man doch nicht!“ Doch sie wartet einen Moment ab, weil sie wissen möchte, warum die Kinder dies tun. Sie geht näher heran und hört, wie Tobias zu Emily sagt: „Hei, schau mal, wenn ich meine Trauben zerquetsche, kommt da ganz viel Saft raus.“ Daraufhin drückt Emily auf ihr Brot und meint: „Ja, aber aus meinem Brot kommt kein Saft raus.“

Sie bemerkt, dass die Kinder gerade dabei sind, etwas zu entdecken und selbstständig zu erforschen. Nun ist Carola hin- und hergerissen: Einerseits fühlt sie sich ihrem Grundsatz verfplichtet, andererseits fällt ihr natürlich die Faszination der Kinder auf, die zu einem guten Lernprozess werden könnte.

Fazit: Erwachsene können und dürfen nicht selbstverständlich ihre Sicht der Dinge als allgemeingültig erklären. Seien Sie stets auch bereit, zu reflektieren und die gesetzten Grenzen zu hinterfragen. Nur so bleiben Sie stets offen für die Sicht- und Denkweise der Kinder!

 

2. Schritt: Übertragen

Carola überlegt: Wie würde sie reagieren, wenn sie ein solches Verhalten bei einer Kollegin beobachten würde? Würde sie hingehen und es dieser verbieten? Oder in einem empörten Ton nachfragen? Sicherlich nicht. Sie wäre vielleicht verwundert und würde höflich nachfragen. Aber sie würde auf jeden Fall vermuten, dass die Kollegin mit ihrer Handlung einen Sinn verfolgt. Und genau das sollten Sie bei Kindern auch tun!

Fazit: Wenn Sie Gefahr laufen, sich allzu sehr auf Ihre Sicht der Dinge zu versteifen, können Sie diese Situation gedanklich in einen anderen Kontext übertragen. Sie sollten zuerst einmal davon ausgehen, dass die Handlung des Kindes einen Sinn macht, den Sie nur nicht erkennen können.

 

 

3. Schritt: Nachfragen

Die Erzieherin Carola weiß, dass ihre kindzentrierte und wertschätzende Haltung es ihr eigentlich verbietet, Kinder hier nun einfach in ihrem Tun zu stoppen, und auch das Erinnern an die gesetzte Grenze „Mit Essen wird nicht gespielt“ scheint ihr wenig Erfolg zu versprechen: 1. wären die Kinder in ihrem Forscherdrang gestoppt und 2. kennt sie keine wirklich gute, das heißt für Kinder nachvollziehbare, Begründung, wenn diese sie auf ihr Verbot fragen: „

Warum dürfen wir mit Essen nicht spielen?“ Daher entscheidet sich Carola, dass die Kinder einen gewissen Spielraum zugestanden bekommen. Das bedeutet in der 1. Konsequenz, dass sie nun bei den Kindern nach dem Sinn ihres Tuns fragt.

Fazit: Missbrauchen Sie nicht Ihre Macht als Erwachsene. Sprechen Sie besser mit den Kindern über deren Tun.

 

4. Schritt: Begrenzen

Da die beiden Kinder gerade in einem sehr intensiven Gespräch über das Verhalten der Lebensmittel sind, möchte Carola nicht durch ihr Nachfragen stören. Daher versucht sie, durch Beobachtung zuerst herauszufinden, worum es den Kindern geht und was sie genau fasziniert. So beobachtet sie also in den folgenden Minuten, wie Emily und Tobias damit beginnen, auch ihr anderes Essen zu drücken und zu untersuchen. Als die beiden dann eine Tomate mit ihren Fingern zerquetschen, greift Carola ins Geschehen ein. Sie spricht die Kinder darauf an, dass die Tomaten nun in diesem Zustand ja nicht mehr appetitlich und essbar ist. Die Kinder antworten ihr: „Ja, aber das spritzt doch so schön. Die Tomate hat noch viel mehr Saft als die Traube!“ Carola entgegnet: „Ich finde es okay, wenn ihr so etwas herausfindet, aber habt ihr eine Idee, wie ihr das machen könnt, ohne dass danach das Essen weggeworfen werden muss?“ Gemeinsam überlegen sie und kommen zu einem Ergebnis, das für beide Seiten gut ist. Die Kinder dürfen weiter austesten, tun dies aber so, dass auch der Wunsch der Erzieherin berücksichtigt wird.

Fazit: Grenzziehung ist das Schließen von Kompromissen. Beide Seiten kommen einander entgegen, damit jeder damit leben kann. So spüren die Kinder, dass ihre Interessen wahr- und ernst genommen werden, gleichzeitig aber auch, dass nicht alles uneingeschränkt erlaubt und gut ist.

Vielleicht fragen Sie sich nun: „Warum konnte dieser Kompromiss so gut gelingen?“ Das liegt daran, dass Carola wichtige Punkte eingehalten hat:

  • Kein Machtmissbrauch
  • Kein Verlangen von bedingungslosen Gehorsam
  • Zurückhaltung mit „erwachsenen“ Maßstäben
  • Interesse an der Aufrechterhaltung der Beziehung
  • Eine angemessene Grenzziehung
  • Respekt vor den Bedürfnissen der Kinder

Ein letztes Fazit: Sehen Sie Grenzüberschreitungen der Kinder als Chance der gegenseitigen Kommunikations- und Beziehungspflege. Mit den hier vorgestellten Schritten kommen Sie garantiert mit Kindern ins Gespräch.